Segenbringende Mutter Poem by Wolfgang Steinmann

Segenbringende Mutter

Ich stehe vor dem Meer,
und es rollt und rollt in seinem grünen Blut und
sagt: ‘Gib den einen Gott nicht auf,
denn ich habe eine handvoll davon.'
Der Passat blies
seine zwölffingrige Umkehr,
und ich stand einfach so am Ufer,
während die See aus Salz ein Kreuz machte,
an das sie ihre Ertrunkenen schlug;
und sie klagten Deo Deo.
Die See brachte sie in den Venen ihrer Macht dar.
Ich wollte daran teilnehmen,
aber ich stand dort allein, wie eine riesige Vogelscheuche.

Die See kochte herein und heraus,
die See röchelte am Ufer,
aber ich konnte sie nicht verstehen, konnte
ihre Gefühle, ihre verschlossenen Mienen nicht lesen.
Weit draussen rollte sie, rollte wie
eine Wöchnerin in Wehen,
und ich stellte mir die Menschen vor, die sie überfahren hatten,
vor Jahren, die Händler, die Sklaven, die Söldner.
Ich wunderte mich, wie sie diese Bollwerke ertragen hatte.
Man sollte sich, Haut an Haut, in sie einfügen,
sollte sie anziehen, wie ein Tauf- oder Leichenhemd,
sollte sie anbeten, wie ein Gläubiger vor dem Altar kniet,
sollte in diese Auferstehung hinabsteigen,
obwohl sie so glatt wie Olivenöl ist,
wenn sie die Wellen ersteigt, als betröge sie das Weiss.
Die unendliche Tiefe trägt einen grauen Hut und kennt das Gesetz,
doch die See dringt mit ihren hundert Lippen
in ihr Schicksal ein,
und im Mondschein kommt sie in all ihrer Nacktheit,
entblösst ihre Brüste aus milchigem Wasser,
entblösst ihre Schenkel aus unsterblicher Lust,
und nimmst du sie dir in der Nacht,
dann glänzst du wie ein Neon-Sopran.

Ich bin dieser unbeholfene Mensch
am Ufer,
ich liebe dich, und ich komme, ich komme,
ich gehe,
und ich will dir meinen Daumen aufdrücken
wie das Lied von Salomon.

(nach Anne Sexton: The Consecrating Mother)

This is a translation of the poem The Consecrating Mother by Anne Sexton
Wednesday, May 11, 2016
Topic(s) of this poem: despair,suicide
COMMENTS OF THE POEM
Close
Error Success