Der Wanderer Poem by Carl Spitteler

Der Wanderer



Flaumflocken flüstern vom Himmel leis.
Ein Wandrer steigt über Firn und Eis.
Die Schneefrau folgt ihm mit tückischem Schritt:

'Halt stille, mein Lieber, und nimm mich mit!
Der Abend ist nah, und der Gipfel ist fern.
Ich spiel Dir zur Kurzweil ein Liedchen gern.'

Sie setzt an die Lippe die grüne Schalmei,
Die jauchzte von Blumen und Lenz und Mai.
Er lauschte, die Wangen von Tränen naß,
Dann schlug er ein Kreuzchen und zog fürbaß.

Und finstrer wölkt sich der dämmernde Schnee.
Sie schlich ihm zur Seite auf listiger Zeh':
'Halt! daß ich Dir leuchte, Du wandelst irr!
Ein freundliches Märchen erzähl' ich Dir.'

Eine Ampel zog sie aus ihrem Gewand:
Da glänzt ihm vor Augen der Heimat Land,
Der Hügel, der Garten, die Eltern sein
Im seligen goldigen Jugendschein.

Er schwankte. Schon kürzt er der Schritte Maß,
Dann schlug er ein Kreuzchen und zog fürbaß.

Und es stürmt und es stöbert mit Sturmesmacht,
Vom heulenden Felsen gähnt weiße Nacht.
Sein Wille versagte, sein Knie versank.
Da saß sie auf einer steinernen Bank.

'Hier ist es behaglich; komm, setze Dich!
Ich weiß zu kosen gar minniglich.
Und lockt Dich der Schlummer und lacht Dir ein Traum:
An meinem warmen Busen ist Raum.'

Sie blickte so lieblich, sie nickte so hold,
als ob sich der Himmel ihm öffnen wollt.
Er wankt ihr entgegen in taumelndem Lauf
und fiel ihr zu Füßen - stand nie mehr auf.

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