Stille See Poem by ADAM WIEDEMANN

Stille See

für Dorota Różycka


1.
Zur Sache, Käpt‘n! Das Beiboot ist in Flammen aufgegangen,
aber glücklicherweise sinken wir nicht. Wir sehnen uns
nach dem versprochenen Paradies, das nichtmal der
bekommen hat, der es versprach. Das war ein Niemand,

ein Landräuber. Allein indem er auf einem Stuhl saß,
verdiente er sich ein Ehrenband, und wir finden,
das ist eine gute Auszeichnung, wenn auch rechtzeitig

festgestellt werden sollte, dass Ehrenbänder dieses Typs
nicht mehr produziert werden. Aber was quatsche ich da, und
über wen? In zehn Jahren werden wir immer noch im Dienst sein,

nur unter einer anderen Führung. Der Käpt‘n geht zuerst über Bord,
bis zuletzt auf seiner Brücke, eilig ihm hinterher das Fräulein
Aurelia von der Bar, und nach ihr unser allerliebster
Kicker-Automat. Verlassen wir diesen


2.
alten Kahn. Lass uns zum Ufer schwimmen, zu den windreichen
Felsen, schwimmen wir gradaus, ohne Pause, stimmen wir
ein paar Liedchen über die Ostsee an, von denen wir so viele kennen. Im Grund
ist der Wind unser einziger Begleiter, weht uns aus allen Richtungen an,

die als Weltteile zu bezeichnen aber doch peinlich wäre. Denn das ist nicht mehr
die Welt, von der wir träumten, denn diese Welt hat nur noch zwei Teile,
Oben und Unten, sie ist simpler als ein Bilderbuch, Bilder, die wir uns
ja übrigens vorstellen oder in Erinnerung rufen sollten, ich weiß auch nicht.


3.
Einen Anker nach dem andern werfe ich aus, und doch zieht mich irgendwas
zur Seite, vom Stützpunkt weg, und ich weiß, das ist gut so.
Denn: sind wir überhaupt Matrosen?

Oder doch vielleicht Passagiere? Der Schiffbrüchigen gedenke ich nicht,
wir verstecken sie unter Deck, als „Fraß für die
Medien", wie Fräulein Aurelia zu sagen pflegt, der sie sogar den Kochlöffel
abgenommen haben.

Und tschüss! Am Heiligabend kommt uns der Prälat besuchen,
leider ist Sommer jetzt, und wir können nur davon träumen,
auf der südlichen Halbkugel zu sein. Was eine Hitze!,

wiederholen sie im Radio und denken dabei an die Hersteller von Gadgets
des Typs ‘Slip', wir brauchen sowas ja nicht mehr, wir haben
ein gewisses Alter erreicht, der Bär hat unsere Pässe gefressen,

die Robbe unsre Mützen. Erhobenen Hauptes gehn wir umher,
und am Himmel so viele Sterne, das sind „Risse,
oder auch Brandlöcher von Kerzen", durch welche jene Energie des

Universums auf uns herabfließt, von der wir uns ernähren.
Um auf die Schiffbrüchigen zurückzukommen, sie trinken
ihr eigenes Erbrochenes und haben abgefressene Fingernägel, schwarz sind sie.


4.
Ach, ach, Liebchen, ich kann dich jetzt nicht umarmen.
Ach, ach, Liebchen, schmieg mich an dich, wenigstens mit einem Bein.

Meine Zähne, Liebchen, haben schon in dies und das hineingebissen.
Meine Lippen, Liebchen, sprachen schon das eine oder andere Wort.

Lass die Luft aus mir raus, Liebchen, wie aus einem Luftballon,
kratz mich aus, Liebchen, wie das Innere eines Ofens.

Verschmilz mit mir, Liebchen, wie ein Schiff mit dem Horizont,
und ruh' dich aus in meiner Kajüte wie ein Stuhl mit einem zersplitterten Bein.


5.
Die bescheuerten Lieder der Schiffbrüchigen hört man bis ins Krähennest hinauf,
auf der Wanderroute der Wachteln durchqueren wir das Mittelmeer,
unser Schiff hat keine Flagge, unsre Heimat ist ein Vulkan,
die Vergangenheit überwölbt uns wie eine Torte, wie eine Losung,

wie ein Appell, ein Schmetterling, wie was weiß ich noch,
denn ich erinnere mich ja nicht, wie es war, auf der Welt,
singe nur so vor mich hin, summe nur so eben,
auch wenn die Melodie falsch ist, und der Text aus der Vorkriegszeit.

Und schon sind in meinem Computer alle Worte unterstrichen,
meine Rede besteht nur noch aus Fremdwörtern,
aus meinem Krähennest singe ich hinauf zum Herrn,
die ganze Zeit überlege ich, ob ich nicht anfangen soll, arabisch zu singen.

Was mir so einfällt, dieser Mullah in seiner Moschee,
wo kommt der eigentlich her? Aus einer SMS von irgendwem?
Keine SMS erreicht die Spitze dieses Mastes hier,
die Reichweiten überlasse ich den kleinen Scheißern, die Era hier angespült hat.

Was für eine Ära, fragt ihr? Ihr habt fast gewonnen!
Gleich ist dieses Gedicht am Ende, gleich erlischt das Gedächtnis
der Namen, der eignen, der gemeinen, und derjenigen von unter der Kirche…
Neugierig halte ich den Arm raus… Lass uns losschwimmen, es regnet nicht mehr.

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