Jan Wagner Poems

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1.
GIERSCH

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen - darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-

standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
...

2.
KOALAS

so viel schlaf in nur einem baum,
so viele kugeln aus fell
in all den astgabeln, eine boheme
der trägheit, die sich in den wipfeln hält und hält

und hält mit ein paar klettereisen
als krallen, nie gerühmte erstbesteiger
über den flötenden terrassen
von regenwald, zerzauste stoiker,

verlauste buddhas, zäher als das gift,
das in den blättern wächst, mit ihren watte-
ohren gegen lockungen gefeit
in einem winkelchen von welt: kein water-

loo für sie, kein gang nach canossa.
betrachte, präge sie dir ein, bevor es
zu spät ist - dieses sanfte knauser-
gesicht, die miene eines radrennfahrers

kurz vorm etappensieg, dem grund entrückt,
und doch zum greifen nah ihr abgelebtes
grau -, bevor ein jeder wieder gähnt, sich streckt,
versinkt in einem traum aus eukalyptus.
...

3.
KOALAS

so much sleep in only one tree,
so many gray globes
of fur in all the branches, a bohemia
of sluggishness which itself in the treetops holds and holds

and holds with a couple of crampons
as claws. nor was it ever credited, first to take
the journey above the whistling fans
of rainforest canopy, ruffled stoics,

shoddy buddhas, tougher than the poison
in the leaves, with their cotton-wool-
ears against enticements, immune
in some cranny of the world: no waterloo

for them, no walk to canossa.
take note of them, memorize them
while there is time - this face in repose,
this expression of a cyclist

very close to stage win, dis-
connected from the ground, but within our reach
in jaded gray, before each of them yawns, stretches,
drops off into a dream of eucalyptus.
...

4.
BINDWEED

do not underestimate the bindweed,
its need for wreathe and stifle rooted deep
in its name - hence the blossom, blinding, white,
as chaste as a tyrant's dream.

like an ancient crime, an unpaid debt,

it returns to haunt a scene. by cover
of darkness, beneath the fields or a lawn,
it sends out feelers, fires a riot,

rises glorious in green. behind the barn,
convolved in cypress or bean, the unkind
climber spirals; a seething, creeping spume

it twines up walls and roan, choking
windows and drain, trumpeting, binding, abiding,

till nothing breathes but bindweed, and nothing more is seen.
...

5.
VERSUCH ÜBER MÜCKEN

als hätten sich alle buchstaben
auf einmal aus der zeitung gelöst
und stünden als schwarm in der luft;

stehen als schwarm in der luft,
bringen von all den schlechten nachrichten
keine, dürftige musen, dürre

pegasusse, summen sich selbst nur ins ohr;
geschaffen aus dem letzten faden
von rauch, wenn die kerze erlischt,

so leicht, daß sich kaum sagen läßt: sie sind,
erscheinen sie fast als schatten,
die man aus einer anderen welt

in die unsere wirft; sie tanzen,
dünner als mit bleistift gezeichnet
die glieder; winzige sphinxenleiber;

der stein von rosetta, ohne den stein.
...

6.
AN ESSAY ON MIDGES

as if all the letters had suddenly
floated free of a paper
and formed a swarm in the air;

they form a swarm in the air,
of all that bad news telling us
nothing, those skimpy muses, wispy

pegasuses, only abuzz with the hum
of themselves, made from the last twist
of smoke as the candle is snuffed,

so light you can hardly say: they are -
looking more like shadows, umbrae
jettisoned by another world

to enter our own, they dance, their legs
finer than anything pencil can draw,
with their miniscule sphinx-like bodies;

the rosetta stone, without the stone.
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7.
IM BRUNNEN

sechs, sieben meter freier fall
und ich war weiter weg
als je zuvor, ein kosmonaut
in seiner kapsel aus feldstein,
betrachtete aus der ferne
das kostbare, runde blau.

ich war das kind
im brunnen. nur die moose
kletterten am geflochtenen
strick ihrer selbst nach oben,
efeu stieg über efeuschultern
ins freie, entkam.

ab und zu der weiße blitz
eines vogels, ab und zu
der weiße vogel blitz. ich aß,
was langsamer war. der mond,
der sich über die öffnung schob,
ein forscherauge überm mikroskop.

gerade, als ich die wörter assel und stein
als assel und stein zu begreifen lernte,
drang lärm herab, ein hasten, schreie,
und vor mir begann ein seil.

ich kehrte zurück ins läuten der glocken,
zurück zu brotgeruch und busfahrplänen,
dem schatten unter bäumen,
gesprächen übers wetter, kehrte
zurück zu taufen und tragödien,
den schlagzeilen, von denen
ich eine war.
...

8.
IN THE WELL

six, seven metres free-fall
and i was further away

than ever before, a cosmonaut
in his field-stone capsule
gazing from afar
at the precious round of blue.

i was the child
in the well. only the moss
climbed the braided twine
of itself to the lip, ivy
climbed on shoulders of ivy
into the open to freedom.

now and then the white flash
of a bird, off and on

the white bird flash. i ate
anything slower. the moon
slid over the opening -
a boffin's eye at the microscope.

just when the words slater and stone
had begun to mean slater and stone,
noise arrived, a hollering and hurrying:
in front of my nose began a rope.

i went back to tolling bells,

back to bread-smells and bus times,
to shade under the trees
and talking about the weather, went
back to christenings and tragedies,
to the headlines, of which
i was one.
...

9.
LAKEN

großvater wurde einbalsamiert
in seines und hinausgetragen,
und ich entdeckte ihn ein jahr später,
als wir die betten frisch bezogen,
zur wespe verschrumpelt, winziger
pharao eines längst vergangenen sommers.

so faltete man laken: die arme
weit ausgebreitet, daß man sich zu spiegeln
begann über die straffgespannte fläche
hinweg; der wäschefoxtrott dann, bis schritt
um schritt ein rechteck im nächstkleineren
verschwand, bis sich die nasen fast berührten.

alles konnte verborgen sein
in ihrem schneeigen innern: ein leerer
flakon mit einem spuk parfum, ein paar
lavendelblüten oder wiesenblumen,
ein groschen oder ab und zu ein wurf
von mottenkugeln in seinem nest.

fürs erste aber ruhten sie, stumm
und weiß in ihren schränken, ganze
stapel von ihnen, eingelegt in duft,
gemangelt, gebügelt, gestärkt,
und sorgfältig gepackt wie fallschirme
vor einem sprung aus ungeahnten höhen.
...

10.
SHEETS

grandfather was embalmed in his
and carried out, and i

discovered him one year

later when we changed the beds -
shrivelled to a wasp, tiny
pharaoh of a long-gone summer.

sheets were folded by spreading
your arms to mirror your opposite
across their taut expanse. then
came the laundry foxtrot: each
rectangle swallowed by its half,
our noses nearly touching.

anything could be hidden
in their snowy hearts: an empty
vial containing a ghost of perfume,
lavender blossoms or meadow
flowers, a penny, the odd

clutch of mothballs in their nest.

but now they slumbered, mute
and white in their cupboards, great

piles of them, steeped in fragrance,
mangled, ironed and starched,

as scrupulously stacked as parachutes
before a jump from undreamt-of heights.
...

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