Kreuzweg Poem by TOMAS VENCLOVA

Kreuzweg

Der Pfad lief vom Fahrdamm zur feuchten Wiese
Hinab. Du sahst, wie die Sonne, in einer Mulde
Erlöschend, ein letztes Drahtstück entflammte.
Ein Wappen thronte auf der gestreiften Säule.
Der rauhe Lattich rieb sich dort am Zement.

Nordostwärts hingestreckt lag das schmale,
Geduldige Land, von der Nacht schon umarmt.
Am Rand eines Erlenwäldchens benagte ein Reh
Zarte Triebe. Am Horizont, nur mehr zu ahnen,
War jener See, wo im dämmernden Wasser
Am Ufer ein Kind sich im Spiegel betrachtete,
Ein Kind wie einst du. Und es zog da ein Lied
Durchs Schilf, den Bootssteg streifend, das Datum
Am überwucherten Grabstein. Die Zeit,
Dem Gedächtnis entglitten, dem Biographen,
Bedeutungsvoll ist sie als alles ringsum,
Last, schwer zu ertragen, doch Talisman auch.

Zur Linken drohte, verwildert, ein Dickicht.
Darin eine grimmige Lichtung, die zog den Blick
In Schlamm und Morast, einen brodelnden Sumpf,
Wo unsichtbar Geister tanzten in Scharen,
Grinsend, in räudige Felle gehüllt, dem Gehirn
Eines Kupferstechers entsprungen. Weiter entfernt
Lagen Wiesen, pechschwarz, zertrümmerte Brücken.
Ein Kanal zog sich dort, fern der Städte, ans Meer,
Im Packeis erstarrt, nie von Schiffen belebt.
Jeder wußte: dort wurden Kinder geboren,
Um unterm Tor sich ihr Fixerbesteck zu teilen,
Ihren Zorn, Zigaretten, Kleingeld und Sperma.

Im Rücken - der weißliche Rauch des Gehöfts,
Das Gebell der Hunde, die den Hof bewahren
Vor fremdem Besuch. Es ist spät geworden.
Am Burghügel winden sich, zwischen den Mulden,
Die schmalen Wege hinauf, selten befahren,
Die Mauern, unverputzt, vom Feuer versiegelt.
Und wennschon, das Schicksal hat's so gewollt:
In meiner Heimat, am dreifachen Kreuzweg,
Wo gleich vor der Haustür die Grenzpfosten ragen
Aus älteren Zeiten, bis gestern noch tödlich,
Bei den unheimlichen Bögen des Viadukts,
Mag sie noch einmal durchquert sein, die Öde.

Berühre das Gras nun, das kühle, der Kindheit.
Hier bist du zuhaus. Soll dreifach rauschen das Meer
In der Muschel der Nacht. Daß die Gnade dich finde:
Einer neuen Ära, die keine Posten mehr braucht,
Einer Luft, die sich sehnt nach der einzelnen Stimme.

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