Musik Nenne Ich Es, Musik Poem by Wolfgang Steinmann

Musik Nenne Ich Es, Musik

An manchen Tagen finde ich einen Rhythmus, ja, ein
Lied in meinen Atemzügen. Ich bin ganz alleine hier
in Brooklyn Heights, spätmorgens, und der Himmel
hängt wasserklar über dem Hotel St. George, d. h.,
wasserklar für New York. Das Radio spielt gerade
"Bird Flight", Parker vor fünfzig Jahren, mit seiner
tragischen Kalifornia-Stimme, sein zögernder
"Lover Man", ehe er selbst in sein Chaos absackte.
Ich stelle mir vor, dass draussen vor dem Studio
in Burbank die Sonne hoch über den Jacarandas steht,
Spätmärz, es hatte gestern geregnet, aber jetzt
war das alles vorbei, der Himmel blau verwaschen. Bird
hätte meilenweit sehen können, hätte er nur die Augen,
aufgemacht, aber was er sah war ihm so fremd, dass er sie
zusammenkniff, den Kopf schüttelte und wie ein Hund bellte -
ein einziges Mal nur - und dann fasste Howard McGhee ihn
beim Arm und sagte es wäre OK. Ich weiss das alles,
weil Howard mir Jahre später erzählt hat, er hätte geglaubt,
dass Bird sich in ihrem gemeinsamen Hotelzimmer für ein
oder zwei Stunden hinlegen und dann wieder aufwachen würde.
Ein vollkommener Sonnenstrahl fällt schräg in mein Zimmer
über Willow Street. Ich achte darauf, wie ich ein- und aus-
atme, und versuche dieses sonderliche Aroma zu schmecken,
ein bisschen wie Milch und Eisen und Blut, wenn es aus mir
heraus in die Welt dringt. Ich kann nichts dafür, es geschieht
ganz von selbst, dieses Eindringen und Entweichen,
es ist die wichtigste Funktion meines Körpers, ohne die
ich nur ein Ding bin. Der ganze Vorgang hat einen Namen,
ein Wort, das ich aber nicht kenne, ein elegantes Wort,
weder Englisch noch Yiddish noch Spanish, ein Wort,
das für mich keine Bedeutung hat. Howard hat das
damals wirklich geglaubt, als er mit Parker in ein
Taxi gestiegen ist und stillschweigend mit ihm durch
die Gegend gefahren ist, während die Welt sich
vor ihnen auftat: Tankstellen, Gemüse- und
Obststände, ein Kiosk mit Krimskrams aus
Mexiko und den Philippinen. Alles war so greifbar
und westlich, eine neue Kreativität fand ein
neues Leben, wie die Musik von Charlie Parker,
von jemandem später ‘froh' genannt, doch
an jenem Tag wohl eher als ‘die stille Musik
Charlie Parkers' bezeichnet. Howard blieb still.
Er bezahlte das Taxi und half Bird die Treppe hinauf
zu ihrem Zimmer im zweiten Stock, zog ihm die Schuhe
aus und liess ihn schlafen, während der Nachmittag
in die Erinnerung des Abends überging. Ich will hier
kein Urteil über Howard abgeben, er hat seine Sache
besser gemacht als ich es je hätte tun können.
Ich war damals gerade 19 Jahre alt und arbeitete
auf der Laderampe der Railway Express Kompanie,
Tag für Tag in den angeschlagenen Körper eines
Mannes schlüpfend und zweideutige yiddische Lieder
ins Weite schmetternd, die mir mein Zadie beigebracht
hatte, ehe ihm der Atem ausging. Nun ist Howard tot,
schon 11 Jahre lang tot, diese warme Stimme ist still.
„Der feine Übergang von Eldridge zu Navarro",
schrieb man später, all diese aufbrechende Leidenschaft
nur eine Randnotiz für andere. Ich erinnere mich, dass er
in 1985 auf dem Schulgelände von Cass Tech, wo er,
nach Jahren auf Tour, lehrte, meine Linke mit beiden
Händen umklammerte und mir erklärte, dass im Ende
alles zum Guten gewesen sei. Vieleicht war er religiös
geworden, vielleicht wusste er, wie wenig Zeit ihm blieb,
vielleicht war hatte er einfach die Nase voll von meinen
unendlichen Fragen über Parker. Für ihn war Bird
wirklich nur Charlie Parker, ein Mensch, eine stille Note
auf immer verklingend im Alltag dieses Genies,
das heute in meinen eigenen Alltag füllt, während
der lichte Morgen dem Nachmittag Platz macht.
Musik nenne ich es, Musik. Genau das, was ich brauche,
wenn die Sonne über die grauen Wolken torkelt,
die unerbittlich von dem grossen, namenlosen Ozean
heraufziehen, dem endlosen, stillen, der auf mich wartet.

This is a translation of the poem Call It Music by Philip Levine
Wednesday, May 31, 2017
Topic(s) of this poem: remembrance,music
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