Als Dichter kannst du sicher sehen, dass da eine Wolke auf diesem Papier schwebt
Thich Nhat Hanh
Ehe du eine Wolke warst, warst du ein Ozean, unruhig, raunend wie ein Mund. Du warst der Schatten einer Wolke, die über ein Tulpenbeet zog. Du warst die Tränen, die ein Mann in ein kariertes Tuch weint. Du warst ein Himmel ohne Hut. Dein Herz flatterte und schwoll wie Leinen zum Trocknen gehängt.
Und als du ein Baum warst, da hörtest du die Bäume und was sie zu sagen hatten. Du warst der Wind in den Speichen eines roten Fahrrads. Die warst die spinnenarmige Maria, tätowiert auf den haarlosen Arm eines Jungen im Stadtzentrum von Houston. Du warst der Regen, der von den wachsigen Blättern der Magnolien tropfte. Eine strohblonde Locke in die Seiten einer Victor Hugo Novelle gepresst. Ein Halbmond von Seife. Eine Spinne wie Fingernägel gefärbt. Ein blauer Wollknäuel. Eine Untertasse in Zeitungspapier gepackt. Eine leere Keksdose. Eine Schale mit Blaubeeren und Sahne. Weisser Wein in einem Glas mit grünen Stiel.
Und als du deine Flügel dem Wind im löcherigen Blechhimmel über dem Gefängnishof darbotest, da hoben die Lebenslänglichen ihre Augen, zu sehen, wie leicht und lieblich ein weisse Wolke geht.
8.10.91
San Antonio
(nach Sandra Cisneros: Cloud)