[ICH WAR AN DIESEM ABEND ALLEIN WIE SO VIELE] Poem by ELO VIIDING

[ICH WAR AN DIESEM ABEND ALLEIN WIE SO VIELE]

ICH WAR AN DIESEM ABEND ALLEIN WIE SO VIELE
und genauso viel war in mir eins,
alles was mich verfolgte, nahm vielerlei Gestalt an,
nicht eins war anders, alles war wie alles.
Ich erinnere mich, dass ich fragte, warum ich,
als erinnerte ich mich, warum gerade ich, und ich schrie.

Ich spazierte am Wohnheim vorbei, das Haus hatte zwei Seiten
zwei Birnen gammelten auf dem Bürgersteig, zwei Bretter waren vor die Fenster genagelt,
in einem Fenster waren zwei Männer zu sehen, zwei Frauen, zwei Kinder,
zwei Bäume, zwei Opfer, zwei Plastiktüten, zwei Bier, zwei Goldkettchen
in einer so bezaubernden Umgebung! So total war ich eins. Ich legte einen Schritt zu,
warum gerade du?

Das Messer trifft den Blutenden.

Ich wusste plötzlich genau, warum ich. Hier wird man vor allem geboren,
dass man dem Stacheldraht ein Bein stellt, wie der Teufel
auf sein Kommen und Gehen wartet,
auf die Zeit, da man sein Gesicht noch deutlicher sieht, das Gedächtnis verliert und alles wieder gutmacht.

Oder man macht sich davon. Oder zeigt den Finger.
Ich war an diesem Abend allein wie so viele
und genauso viel war in mir eins,
alles was mich verfolgte, nahm vielerlei Gestalt an,
nicht eins war anders, alles war wie alles.
Ich erinnere mich, dass ich fragte, warum ich,
als erinnerte ich mich, warum gerade ich, und ich schrie.

Was ist denn, wenn du in diesem gottverdammten Kaff wohnst, sagte man mir,
in diesem Land zählt der Durst, und große, von Herzen kommende Zugeständnisse
marschieren dir in den Verstand und fragen, ob du leben oder im Sterben
zum Verlierer erklärt werden willst. Willst du unsere Luft.
Ich will all denen danken, die mir vom Morden erzählt haben und
von historischen Helden, von historischen Stücken,
von historischen Romanen, von historischen Persönlichkeiten,
von historischem Historischem, wie gut ich mich an alles erinnere!

Es war, als wäre es gestern gewesen, das leere Schulhaus,
wo man den Erstklässler ans Kreuz schlug,
der kein Geld hatte.

Ich war an diesem Abend allein wie so viele
und genauso viel war in mir eins,
alles was mich verfolgte, nahm vielerlei Gestalt an,
nicht eins war anders, alles war wie alles.
Ich erinnere mich, dass ich fragte, warum ich,
als erinnerte ich mich, warum gerade ich, und ich schrie.
Ich erinnere mich an die Demütigung meines Rückens (wie ich den Rücken beugte)
erinnere mich an alle eingewanderten Brüder und Schwestern, die zu mir kamen
mit Visumsorgen
und mich dann in der Höhle meiner Überzeugungen verrotten ließen.
Aber ich bin still, damit man mich
nicht ans Kreuz schlägt.

Ich war an diesem Abend allein wie so viele
und genauso viel war in mir eins,
alles was mich verfolgte, nahm vielerlei Gestalt an,
nicht eins war anders, alles war wie alles.
Ich erinnerte mich, warum gerade ich, und ich schrie.

Aber ich erinnere mich nicht,
was ich zur Antwort bekam. Bestimmt rollen sie die Steine weg,
dann ist es leichter.
Aber was soll ich mit ihnen anfangen?
Ich rolle sie zurück. Vor jemand anders.
Ich winke ab und tue so, als habe man mich unnötig entdeckt,
aber vorher zieh ich sie über den Tisch so gut ich kann, mache mich lustig über sie,
kämpfe um meine tägliche Depression,
Hauptsache, ich halte den Mund, schneide die Hecke gleichmäßig hoch,
falte die Hände auf der Brust und sehe zu, dass mein Licht niemand ins Auge fällt.

COMMENTS OF THE POEM
Fabrizio Frosini 16 July 2019

Another poem by Elo Viiding, Translated into English by Kalju Kruusa Life is what we live and die what we want to say about one another how much we give away threatening with kindness ask back from ourselves this cannot be done away with cannot be sold what we devour and starve for how far we carry the most burdensome lifework the most oppressive guilt

8 0 Reply
Fabrizio Frosini 16 July 2019

It seems that the mystery of Elo Viiding’s poetry lies in the fact that her original poems dealing with contemporary life connect the longing for naturalness and mental freedom – she is a poet who has a powerful and sensitive social awareness. [from Estonian Literary Magazine]

8 0 Reply
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